2003

Der Arzneimittelvertrieb in der Gesundheitsreform 2003 – eine apotheken- und verfassungsrechtliche Analyse des GMG-Entwurfs

Deutscher Apothekerverlag Stuttgart, 2003 (gemeinsam mit Dr. Heinz-Uwe Dettling)

Christofer Lenz

Zusammenfassung und Thesen

1. Der GMG-Entwurf ändert die Leitbilder des Arzneimittelvertriebs in Deutschland

Der Ministeriumsentwurf des GMG ersetzt das Leitbild der persönlichen, kontrollierten Abgabe von Arzneimitteln in der Apotheke vor Ort durch das Leitbild der anonymen Abgabe von Arzneimitteln im Wege des massenhaften Versandes, das Leitbild des einheitlichen Abgabepreises durch das Leitbild der freien Preisbildung, das Leitbild der freien Apothekenwahl durch das Leitbild der vorgegebenen Kassenapotheke und das Leitbild des freiberuflichen, persönlich haftenden und örtlich gebundenen Apothekers in seiner Apotheke durch das Leitbild des angestellten, beschränkt verantwortlichen und mobilen Apothekenleiters in der Filiale.

2. Die preisrechtliche Privilegierung des Versand-handels und der „Kassenapotheken“ gefährdet die flächendeckende, zeit- und ortsnahe Versorgung mit Arzneimitteln und verletzt damit die Grund-rechte der Patienten

Die vom GMG-Entwurf vorgesehene preisliche Privilegierung von Versandapotheken und von „Kassenapotheken“ für vertraglich vereinbarte Versorgungsformen führt unaufhaltsam zu einem Rückgang der Zahl von Präsenzapotheken von heute ca. 21.500 auf künftig allenfalls 2.000. Sie führt zu einem Rückgang der Präsenzapothekendichte von heute 1 : 3.800 Einwohner auf künftig ca. 1 : 40.000 Einwohner. Damit wäre eine ordnungsgemäße Versorgung der Bevölkerung nach den vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Maßstäben (Erhalt eines Arzneimittels inner-halb einer Stunde Hin- und Rückweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln) nicht mehr gewährleistet. Versandapo-theken können diese Anforderungen nicht erfüllen. Es fehlt dann an einem hinreichend dichten Netz von geographisch möglichst gleichmäßig verteilten Präsenzapotheken. Ein Ausgleich durch eine unmittelbare Niederlassungsregulierung wäre in Deutschland aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich.

Die privilegierende Freistellung des neue Vertriebswegs Versand und der Apotheken für vertraglich vereinbarte Versorgungsformen von der Bindung an die Arzneimittelpreisverordnung ist verfassungswidrig. Die Pflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, die körperliche Unversehrtheit der Patienten zu schützen, und die Eigentumsrechte der gesetzlich Pflichtversicherten aus Art. 14 Abs. 1 GG werden verletzt.

Über das verfassungsrechtliche Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) besteht ein Anspruch auf eine flächendeckende Arzneimittelversorgung mit kurzen Lieferzeiten. Die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG) begründet einen Anspruch der Pflichtversicherten auf Erhalt eines Versorgungssystems, das vermeidbare Gesundheitsgefährdungen ausschließt, als Gegenleistung für die von ihnen zu zahlenden Beiträge. Die preisliche Privilegierung des Arzneimittelversandhandels und der von den Kassen ausgesuchten Apotheken für vertraglich vereinbarte Versorgungsformen führt demgegenüber zu einer Konzentration der Versorgung auf wenige Apotheken und damit zum Wegfall einer zeitnahen und flächendeckenden Arzneimittelversorgung in Deutschland. Daraus ergibt sich eine vermeidbare und damit verfassungswidrige Gefährdung der Gesundheit der Bevölkerung.

3. Die preisrechtliche Privilegierung des Versandhandels und der ausgesuchten Apotheken für vertraglich vereinbarte Versorgungsformen verletzt auch die Grundrechte der Präsenzapotheken

Die Freistellung des Arzneimittelversandhandels von den Beschränkungen der Arzneimittelpreisverordnung, an die die öffentlichen Präsenzapotheken weiterhin gebunden bleiben, soweit sie nicht zu den von den gesetzlichen Krankenkassen ausgesuchten Apotheken zur Versorgung von Patienten vertraglich vereinbarter Versorgungsformen gehören, verstößt gegen die Berufsfreiheit der noch preisgebundenen Arzneimittelvertreiber. Für die Privilegierung besteht weder ein legitimer Zweck noch ist sie insgesamt verhältnismäßig. Der Gesetzgeber betreibt mit der Privilegierung der nach dem GMG-Entwurf bedeutendsten Versorgungsformen Dumping gegenüber den von ihm selbst festgelegten, angemessenen Apothekenabgabepreisen und setzt sich damit in Widerspruch zu seinen eigenen Wertungen.

Der weiterhin preisgebunde Apotheker kann nicht auf einen niedrigeren Preis einsteigen. Er kann auch nicht für seine bessere Leistung – zeit- und ortsnahe Versorgung – einen höheren Preis („Qualitätszuschlag“) verlangen.

4. Die Privilegierung der Apotheken für vertraglich vereinbarte Versorgungsformen beschränkt die Rechte der Patienten auf die freie Apothekenwahl und beeinträchtigt die Kontrolle des Arztes durch den Apotheker

Die von den Kassen ausgesuchten Apotheken für vereinbarte Versorgungsformen werden weitgehend identisch sein mit den wenigeren großen Versandapotheken, die durch Masseneinkäufe die besten Preise bieten können. Die Freiheit und Flexibilität der Patienten, ihre Arzneimittel in der Apotheke ihrer Wahl und ihres Vertrauens zu beschaffen, wird auf Null reduziert. Ferner besteht aufgrund der ständigen Zusammenarbeit die Gefahr einer nicht hinreichenden Kontrolle der Ärzte durch die versorgende Apotheke.

5. Die Herausnahme des OTC-Bereichs aus der Preisbindung und Versorgung stellt die verfas-sungsrechtliche Zulässigkeit des Systems der Preisbindung in Frage und führt zu höheren Ausgaben

Der GMG-Entwurf begründet die Freistellung der OTC-Arzneimittel mit Erwägungen, die genauso für eine Freistellung der verschreibungspflichtigen Arzneimittel spräche. Damit legt der GMG-Entwurf die Axt an die Wurzel der Preisbindung. Wenn der Gesetzgeber bei nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten die Preisbindung aus Gründen aufhebt, die auch für verschreibungspflichtige Arzneimittel gelten, ist die Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar, auch wenn es für die Preisbindung gute Gründe gibt, die der Gesetzgeber nicht heranzieht.

Sie ist darüber hinaus für die gesetzlichen Krankenversicherungen kontraproduktiv. Nach der Lebenserfahrung würde künftig anstelle des geeigneten OTC-Arzneimittels ein weniger geeignetes, dafür jedoch teureres verschreibungspflichtiges Arzneimittel verordnet. Dies steht im Wertungswiderspruch zum Wirtschaftlichkeitsgebot und Verbot der Verordnung medizinisch nicht notwendiger Leistungen (§ 12 Abs. 1 SGB V).

6. Der GMG-Entwurf bedeutet den Abschied von der Regulierung der Arzneimittelpreise mit der Folge einer Verschlechterung der Qualität und Effizienz der Versorgung mit Arzneimitteln

Die vorgesehene Befreiung der Versandapotheken, der Apotheken für vertraglich vereinbarte Versorgungsformen und der OTC-Arzneimittel führt zur Beendigung der Regulierung der Arzneimittelpreise. Dies hat drei wichtige Folgen: Eine Senkung des Arzneimittelpreisniveaus durch den Gesetzgeber ist nicht mehr möglich. Die Basis für die zeit- und ortsnahe Versorgung, für den Kontrahierungszwang der Apotheken, für die Werbeverbote des Heilmittelwerberechts und – mangels Preistransparenz – für die wirtschaftliche Verordnungsweise der Ärzte entfällt. Die Gefahr einer Förderung des Mehr- und Fehlgebrauchs von Arzneimitteln, eines Verdrängungswettbewerbs auf der Leistungserbringerseite und einer Abhängigkeit der Versicherten von einigen wenigen großen Leistungserbringer – und damit eines höheren Arzneimittelpreisniveaus wie in den USA – steigt erheblich.

7. Die Kürzung der Preisspannen ohne vorherigen Abbau aller versicherungsfremder Leistungen der GKV ist verfassungswidrig

Nach dem Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen könnten durch die Bereinigung der gesetzlichen Krankenversicherung um krankenversicherungsfremde Leistungen jährlich über 30 Mrd. € eingespart werden. Der GMG-Entwurf will nur versicherungsfremde Leistungen in Höhe von ca. 7,4 Mrd. € abbauen. Statt eines stärkeren Abbaus werden die Vergütungen der Arzneimittelvertreiber stark verringert.

Versicherungsfremde Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung verletzen den Anspruch der Versicherten aus Art. 14 Abs. 1 GG gegen den Gesetzgeber, eine zweckwidrige Verwendung der Versichertengelder zu unterlassen. Der weitere Abbau der versicherungsfremden Leistungen zur Sanierung der gesetzlichen Krankenversicherung ist das mildere Mittel. Die vom GMG-Entwurf vorgesehene Verminderung der Vergütung der Arzneimittelvertreiber ohne den vorherigen weiteren Abbau versicherungsfremder Leistungen verletzt die Arzneimittelvertreiber in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG.

8. Die Kürzung der Preisspannen entbehrt der erfor-derlichen Kalkulation und verletzt deshalb die Berufsfreiheit der Arzneimittelvertreiber

Die Neufestsetzung der Preisspannen in der Arzneimittelpreisverordnung, wie sie der GMG-Entwurf vorsieht, verletzt die betroffenen Arzneimittelvertreiber auch deshalb in ihrer Berufsfreiheit, weil es an der bei einer staatlichen Vergütungsregelung erforderlichen, ordnungsgemäßen, die Interessen der Beteiligten angemessen berücksichtigenden Kalkulation fehlt.

9. Nach ihrer Aushöhlung durch das GMG ist der verbleibende Rest der Preisbindung ein verfas-sungswidriger Torso

Der GMG-Entwurf befreit die Versandapotheken und die Apotheken für vertraglich vereinbarte Versorgungsformen von der Preisbindung und macht sie so zu den weitaus bedeutendsten Versorgungsformen. Darüber hinaus gibt er die Preisbindung für die OTC-Arzneimittel auf. Damit steht rein mengen- und umsatzmäßig fest, dass die Preisbindung entgegen der Systematik von § 1 AMPreisV nicht mehr die Regel, sondern die – seltene – Ausnahme darstellt. Der verbleibende „Torso“ der Arzneimittelpreisverordnung verletzt somit das Grundrecht der weiterhin preisgebundenen Apotheker aus Art. 12 Abs. 1 GG.

10. Die Herabsetzung des Sorgfaltsmaßstabs für Apothekenleiter durch die Zulassung kleiner Apothekenketten führt zur Verfassungswidrigkeit des Fremd- und Mehrbesitzverbotes im übrigen

Das bestehende, strenge Fremd- und Mehrbesitzverbot ist, auch soweit es Apotheker betrifft, verfassungskonform. Es gewährleistet im Interesse eines Höchstmaßes an Sorgfalt und Verantwortung bei der Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln die persönliche Leitung jeder öffentlichen Apotheke durch einen selbständigen, persönlich haftenden und an die Apotheke räumlich und existentiell gebundenen Apothekers.

Gibt der Gesetzgeber jedoch zu erkennen, dass ihm für eine ordnungsgemäße Versorgung der Bevölkerung auf Dauer auch der für einen angestellten Apothekenleiter geltende, geringere Sorgfaltsmaßstab ausreicht, fehlt es an jeglicher Rechtfertigung für eine personelle Beschränkung des Kettenbesitzes auf Apotheker und eine zahlenmäßige Beschränkung der Kettenapotheken auf 5. Im Falle der vom GMG-Entwurf vorgesehenen Zulassung der dauerhaften Leitung von Apotheken durch angestellte Apothekenleiter verletzten Beschränkungen des Eigentums und der Größe von Apothekenketten den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und damit die Berufsfreiheit aller am Betrieb einer Apothekenkette Interessierten.